110

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen gingen wir an die Rezeption, um uns nach dem Weg zu erkundigen. Der Angestellte mit dem gewellten Haar begrüßte uns wie ein Liebespaar in den Flitterwochen. Er war scharf darauf, uns als Führer zu begleiten. »Möchten Sie die Pinguine sehen?«

»Keine Pinguine.« Ich zog unsere Karte heraus. »Wir suchen nach einer Ranch außerhalb der Stadt. Vielleicht können Sie uns helfen.«

»Ah, la estancia«, erwiderte er mit dem hier üblichen Namen für die ausgedehnten Farmen, die seit dem 19. Jahrhundert in Privatbesitz gewesen, jetzt aber in Nationalparks umgewandelt worden waren.

Ich reichte ihm die Karte. »Wir suchen nach einer ganz bestimmten. Sie heißt El Fin del Mundo.«
»El Fin del Mundo«, wiederholte der Angestellte und nickte. »Das Ende der Welt.«
»Sie kennen sie?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber der Name passt.«
Wäre ich offiziell hier, hätte ich viele andere Möglichkeiten gehabt, um Cavello ausfindig zu machen. Aber leider hätte es dazu immer der örtlichen Polizei bedurft. Mit Sicherheit war die Privatsphäre hier unten ein behütetes Gut, und ich wollte keine Aufmerksamkeit auf uns lenken.
»Nördlich der Stadt gibt es viele estancias.« Der Angestellte nahm einen Stift in die Hand und kreiste ein Gebiet auf der Landkarte ein. »Hier, in der Nähe der Skipisten.
Oder hier.« Er kreiste ein anderes Gebiet weiter westlich ein. »Haben Sie ein Auto, Señor?«
Ich nickte. »Vierradantrieb.«
»Sie werden jedes Rad davon brauchen.« Er grinste, als hätte er einen Witz gemacht.
Wir verließen die Stadt Richtung Nordosten auf einer anderen Strecke als der, über die wir hergekommen waren. Die Straße führte eine Weile an der Küste entlang, vorbei an einsamen Inseln. In der Ferne säumten die Berge von Chile den Horizont.
Wir folgten der Küste, bis wir auf eine Straße abbogen, die steil hinaufführte.
»Lass mich raten«, sagte Andie mit gespielter Enttäuschung. »Du willst die Pinguine wirklich nicht sehen?«
»Nachdem wir Cavello gefunden haben«, grinste ich. »Ich werde dafür sorgen, dass uns noch etwas Zeit bleibt.«
Wir fuhren durch die Hochtäler oberhalb von Ushuaia. Hier waren die Ebenen grüner, die Berge steil und schroff. Wir kamen an einigen verwitterten Straßenschildern vorbei. »Bridges Estancia«. Ein anderes mit einem Pfeil deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Chile«.
Die Landschaft war atemberaubend – gefrorene Wasserfälle, die in die Tiefe schossen, hohe Klippen, Felsspalten voll Eis.
Wir kamen an einem wunderschönen See vorbei, aus dem schroffe Gipfel, in bronzenes Licht getaucht, in Formen nach oben ragten, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Die nächsten zwei Stunden holperten wir über jede gekennzeichnete Straße, die wir finden konnten, und fuhren durch ein paar Holzgatter. Jedes Mal falscher Alarm.
Ich war sicher, hier oben eher dem Bigfoot als Cavello zu begegnen. Auf dem Rückweg umrundeten wir die Berge und kamen durch den Feuerland-Park. Wir sahen den größten Eisblock, den man sich vorstellen konnte. Er war mindestens zehn Meter hoch und erstreckte sich kilometerlang in ein Tal zwischen zwei Gipfeln.
Wir fanden drei Ranches. Jede war groß und wunderschön in den Bergen gelegen, mit Blick auf die karge Küste und das Meer. Aber keine war die Ranch, nach der wir suchten.
Ich stöhnte völlig frustriert. Was hatte Remlikov mit »in der Nähe von Ushuaia« gemeint? Wir wussten nicht einmal, in welcher Richtung die Ranch lag.
Als wir gegen vier Uhr die Stadt erreichten, ging die Sonne bereits unter. Noch nie hatte ich eine so malerische Landschaft gesehen wie an diesem Tag, aber deswegen waren wir nicht hergekommen.
»Señor!« Guillermo, der Angestellte an der Rezeption, winkte uns zu, als wir das Hotel betraten. »Haben Sie es gefunden?«
»Wir haben das Ende der Welt gefunden.« Ich schnaubte frustriert. »Aber keine Ranch.«
»Ich habe meine Frau gefragt, Señor«, erzählte er aufgeregt. »Sie ist Holländerin. Sie arbeitet im pasillo de ciudad. Im Rathaus.«
Ich wartete, was er mir erzählen würde.
»El Fin del Mundo. Sie kennt die Ranch und weiß, wo sie liegt.«
Ich trat zu ihm an den Tresen, wo er meine Landkarte auffaltete und auf eine Stelle östlich der Stadt zeigte, die ganz woanders lag als dort, wo wir herumgegondelt waren.
»Hier. Sie gehört einer alten, hiesigen Familie. Das jedenfalls steht in den Dokumenten. Aber meine Frau sagt, sie gehört einem Ausländer. Einem Amerikaner, ja?«
Ich klopfte Guillermo lächelnd auf die Schulter. »Einem Amerikaner, genau.«
Am nächsten Tag machten wir uns erneut auf die Suche. Die Ranch befand sich also im Osten, nicht in der Nähe der anderen, schicken estancias, sondern in einem abgelegenen Tal. Wir wanden uns eine enge Straße hinauf, entlang schwungvoller, felsiger Abhänge und überhängender Gletscher. Straßenschilder gab es hier nicht – wir hielten uns an Guillermos Wegbeschreibung.
Auf einem Ziegenpfad, der der Beschreibung nach oberhalb der Ranch liegen musste, hielten wir an.
Andie und ich kletterten eine versteckt liegende Felsnase hinauf und spähten durch das Fernglas. Ich wusste, dass es Cavellos Ranch war, sobald ich sie sah.
»Er ist hier.«
Die Ranch wirkte nicht so einladend oder offen wie die anderen, die wir gesehen hatten. Kein Schild über einem Holztor verriet den Namen. Stattdessen saßen zwei Männer – oder vielmehr Soldaten – in einem Wachturm und spielten Karten.
»Sie sind ganz schön schlampig«, stellte ich fest. »Das ist ein gutes Zeichen, hoffe ich.«
Schafherden grasten auf den steilen Wiesen. Doch der Zaun, der sich vom geschlossenen Tor aus um die Ranch zog, diente nicht dazu, die Schafe am Ausbrechen zu hindern. Es war Stacheldraht, der Eindringlinge von außen fernhalten sollte.
Die Männer im Turm waren bewaffnet. An der Mauer lehnten zwei Automatikgewehre. Ich erblickte vier Wachen, die mit Hunden entlang des Zaunes patrouillierten. Mir wurde klar, dies hier war keine Ranch, sondern eine Festung.
El Fin del Mundo.
Die Ranch war so groß, dass wir von unserer Position aus weder das Haupthaus noch irgendwelche Wirtschaftsgebäude sahen. Und wie das Thema Sicherheit als Ganzes gelöst war, konnte ich auch nicht sagen. Also konzentrierte ich mich auf die Wachen am Tor. Das verdammte Ding konnte unter Strom stehen. Aber auf jeden Fall bemerkte ich mehrere Kameras.
Ich reichte Andie das Fernglas, die es nervös hin und her schwenkte. Ich war mir sicher, dass sie die Waffen im Wachturm nicht sah, sondern sich auf das Grundstück konzentrierte. Mit einem resignierten Achselzucken gab sie mir das Fernglas zurück.
»Hast du eine Ahnung, wie wir da reinkommen, Nick?«
Ich lehnte mich gegen einen Felsen, hob eine Hand voll Kies auf und ließ ihn auf den Boden rieseln.
»Wir werden nicht reingehen.«
Auch am nächsten Tag beobachteten wir Cavellos Ranch von dem schmalen Ziegenpfad aus, der etwa fünfhundert Meter entfernt lag. Wir versteckten den Wagen, in den wir uns immer wieder zum Schutz vor Kälte und Regen zurückzogen, ansonsten spähten wir nur hinüber zur Ranch und warteten.
Am dritten Tag war es endlich so weit.
Das Tor wurde geöffnet, und die Wachen im Turm erhoben sich. Ich holte mir die Szenerie mit dem Fernglas heran.
In der Ferne erschienen am Ende der Straße zwei schwarze Flecken. Ich sprang aus dem Wagen. »Nick? Was ist los?«, fragte Andie.
Ich antwortete nicht, hielt nur das Fernglas auf die sich nähernden, einige hundert Meter entfernten Fahrzeuge gerichtet. Zwei schwarze Range Rover. Die Wachen am Tor griffen zu ihren Gewehren und gingen in Habachtstellung.
Die Range Rover hielten am Tor der estancia. Die getönten Fenster verhinderten die Sicht. Eine der Wachen am Turm winkte und sagte etwas zum Fahrer im ersten Wagen.
Ich wusste, dass er da drin saß. Dominic Cavello. Ich spürte es in meiner Magengrube. Es war das gleiche furchtbare Gefühl, das ich hatte, als ich Manny und Ed tot am Strand gesehen hatte.
Dann fuhren die Fahrzeuge weiter, das Tal hinab zur Stadt.
»Ich weiß jetzt, wie wir es anstellen werden, Andie«, sagte ich, behielt aber die beiden Range Rover im Blick, die über die steile Bergstraße holperten. »Er kommt zu uns, nicht umgekehrt.« Wir brauchten etwas Geduld. Das hatten wir von Anfang an gewusst. Zweimal die Woche verließ Cavello seine Ranch, immer am Mittwoch und Samstag, immer mit den beiden schwarzen Range Rovern und immer gegen Mittag. Cavello fuhr im ersten Wagen, während zwei seiner Wachen im zweiten folgten.
Am Samstag warteten wir am Stadtrand von Ushuaia und folgten dem kleinen Konvoi ins Zentrum. War dies unsere Chance?
Cavello kam zum Essen in die Stadt – immer in dieselbe cantina –, anschließend kaufte er sich ein paar Zeitungen und Zigarren und schob eine Nummer.
Wir hatten von einem Barmann und einer Kellnerin erfahren, dass der Amerikaner sein Mittagessen in der Bar Ideal einnahm, einem Café in der Nähe des Hafens. Dort saß er immer an einem Tisch am Fenster. Manchmal begrabschte er die kleine, heiße, blonde Kellnerin und flirtete mit ihr. Ein paar Mal hatte man sie nach ihrer Arbeit gemeinsam in einem Hotel in derselben Straße verschwinden und nach etwa einer Stunde wieder herauskommen sehen.
Dann ging er wie ein befriedigter Bulle in einen Tabakladen, der ein paar Häuserblocks auf der Magellanes lag, seine beiden Leibwächter einige Schritte hinter ihm im Schlepptau. Dort kaufte er eine Kiste edler Zigarren. Kubanische Cohibas. Anschließend holte er sich in einem Zeitungsladen die USA Today und die New York Times. Er schien keine Angst zu haben. Wer sollte ihn auch erkennen? Hin und wieder setzte er sich in ein anderes Café, bestellte einen Kaffee, schlug die Zeitung auf und zündete sich eine Zigarre an. Auf seiner Ranch schien er wie ein wichtiger Mann von Händlern beliefert zu werden.
Als ich sah, wie er aus dem Wagen stieg, verkrampfte sich alles in mir. Die Wut und die Qualen von so vielen Morden, für die er verantwortlich war, drängten sich wieder schmerzhaft in mein Gedächtnis, doch ich konnte nur still dasitzen und zusehen.
Wie sollte ich es anstellen? Wie konnte ich trotz seiner Leibwächter an ihn herankommen? Wir hatten keinen Köder.
Wie konnte ich mich nähern? Und was würde passieren, wenn ich es tat?
An diesem Abend aßen wir in einem kleinen Café außerhalb der Stadt. Andie wirkte ausgesprochen wortkarg. Irgendetwas bedrückte sie – ebenso wie mich. Wir waren Cavello so nahe, und er lebte hier als freier Mann. Schließlich blickte sie mich an. »Wie werden wir die Sache hier durchziehen?«
Ich nahm einen Schluck von meinem chilenischen Bier. »Er wird gut bewacht. Ich weiß nicht, wie ich an ihn rankommen soll.«
Andie stellte ihr Bier ab. »Hör mal, Nick, wie wär’s, wenn ich das täte?«
Andie hatte sich die Sache schon eine Weile durch den Kopf gehen lassen, hatte Cavello lange genug beobachtet, um es zu wissen. Schon im Gerichtssaal hatte sie dieses Gefühl gehabt, schon damals gewusst, wie sie sich ihm nähern könnte, sollte dies einmal nötig sein. So wie jetzt.
»Ich bin Schauspielerin, weißt du noch?«
Sie und Nick arbeiteten einen groben Plan aus.
Sie musste dafür sorgen, dass Cavello sie nicht erkannte, doch er hatte sie nur während der Gerichtsverhandlung gesehen – mit langem Haar, das von einer Spange im Nacken zusammengehalten war. Also besorgte sie sich in der Apotheke ein Mittel, um es blond zu färben. Anschließend flocht sie es wie die Indianerinnen zu Zöpfen und setzte eine Baseballkappe auf. Mit etwas Lippenstift und einer Sonnenbrille war selbst sie überrascht.
»Was denkst du?«
»Ich denke, wir sollten der Reihe nach vorgehen. Aber die Verkleidung ist gut.«
Es ging nicht mehr darum, eine Rolle zu spielen. Das hier war echt. Es ging um Leben und Tod.
Sie suchten einen Platz, an dem sie ihn ködern konnten. Aber weil die Leibwächter ständig in Cavellos Nähe waren, musste Nick schnell eingreifen können. Immerhin bestand auch die Möglichkeit, dass er zu spät kam. Dann würde Andie wahrscheinlich sterben. Und er auch.
Nick kaufte ein kurzes Messer mit gezackter Klinge, ein Fischermesser. Und eine Melone.
»Du stößt das Messer hier rein«, zeigte er ihr, führte ihren Daumen an die weiche Stelle unter ihrem Kinn und drückte gegen ihren Kehlkopf. »Damit ist er schachmatt gesetzt und hilflos. Er wird nicht schreien können. Er wird viel zu schockiert sein und viel zu stark bluten, um irgendwas tun zu können. Das Blut wird überall herumspritzen, Andie. Darauf musst du vorbereitet sein. Und du musst das Messer stecken lassen. Bis er tot ist. Glaubst du, du schaffst das?«
Sie nickte zögernd. »Das schaffe ich.«
Nick reichte ihr das Messer. »Wirklich? Zeig’s mir.«
Es sah alles andere als geschickt aus, wie sie das Messer hielt. Bisher hatte sie ein solches Ding nur zum Kochen benutzt. Langsam führte sie es – allerdings mitsamt der Scheide – an die Stelle unter Nicks Kinn und drückte zu.
»Lass mich mit der Melone üben«, sagte sie.
»Übe an mir. Fester«, verlangte er.
Andie drückte das Messer mit mehr Kraft in Nicks Kehle.
Er packte ihr Handgelenk. »Schnell – genau so.« Andie zuckte zusammen, als er seine Hand nach oben schnellen ließ und seinen Daumen in dieselbe Stelle an ihrem Hals drückte.
Sie keuchte.
»Du musst in der Lage sein, genau das hier zu tun«, erklärte er und drückte noch fester zu. »Wenn er irgendwas dergleichen erwartet oder dich erkennt, wird er dasselbe mit dir tun.«
»Du tust mir weh, Nick.«
»Wir reden davon, einen Mann zu töten, Andie.«
»Das weiß ich, Nick!«
Er ließ sie los.
Sie hielt das Messer, bis sie sich daran gewöhnt und sich ihre Hand an den Griff angepasst hatte. Sie dachte an die vielen Male, an die vielen Träume, in denen sie Cavello dies hatte antun wollen.
Sie drückte das Messer noch tiefer in die Stelle, die Nick ihr gezeigt hatte.
Er bog den Kopf unter dem Druck nach hinten. »Fester. Mit einer einzigen Bewegung. Was ist, wenn wir keine andere Möglichkeit haben, Andie? Was ist, wenn ich dir nicht rechtzeitig helfen kann?«
Andie riss die Hand nach oben und rammte das Messer gegen Nicks Kehle. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zuckte er nach hinten.
»Besser.« Er nickte und griff zur Melone. »Jetzt zeig es mir noch einmal. Ich will sehen, wie du mit aller Kraft in diese Melone stichst. Töte Cavello, Andie!«
Dominic Cavellos Mittwoch war richtig beschissen geworden.
Er freute sich immer auf den Mittwoch. Bis dahin hatte er immer schon genug davon, in dieser abgelegenen Ranch wie ein Gefangener zu leben.
Mittwoch war der Tag, an dem er Rita, diesem heißen Feger, die in der Bar Ideal arbeitete, die Besinnung raubte. Doch an diesem Tag war Rita nicht da. Diese Schlampe war in Buenos Aires bei irgendeinem Latinofamilienfest.
Also saß Cavello in der Bar herum und hielt sich, geil und frustriert wie er war, an einem warmen Bier und seinem Würstchen fest. Früher musste er nie alleine essen. Ständig war er von seinen Männern umgeben, von seinen Geschäftspartnern. Von Dutzenden, wenn er wollte, und dazu kam noch eine Auswahl an hübschen Körpern. Er hatte nur mit den Fingern zu schnippen brauchen. Jetzt aß er die ganze Zeit alleine.
Er könnte genauso gut im Gefängnis sitzen. Na ja, vielleicht doch nicht.
Cavello dachte darüber nach, wie er dieses kleine, süße Ding von der Ranch vermisste. Mariella. Was für eine Verschwendung! Er dachte an ihren satinweichen Arsch, an ihre Babytitten. Zumindest – und bei dem Gedanken musste er laut kichern – war er der Einzige, der sie genommen hatte.
Bald würde es anfangen zu schneien und monatelang nicht wieder aufhören. Dann wäre es noch schwieriger, Abwechslung zu finden. Er nahm einen Schluck von diesem beschissenen argentinischen Bier, hätte aber am liebsten den Tisch umgeworfen, so eingesperrt kam er sich vor. In Zeiten wie diesen hätte er zu Hause nur geschnippt und alle Frauen haben können, die er wollte. Egal wie alt. Oder jemandem eine Pistole in den Mund schieben und um Gnade flehen lassen. Ja, das hatte ihm Spaß gemacht. Zu Hause stünden ihm alle Möglichkeiten offen. Da wäre er Dominic Cavello. Der Elektriker.
Diese Inkas hatten keine Ahnung, wer er war.
Er stand auf, warf ein paar zerknitterte Scheine auf den Tisch und ging hinaus, wo er Lucha und Juan zunickte, die im Range Rover auf der anderen Straßenseite saßen. In seinem schwarzen Ledermantel, zum Schutz vor dem eisigen Wind leicht vorgebeugt, ging er den Hügel hinauf.
Verdammte Scheiße!
Während seine Leibwächter hinter ihm herfuhren, ging er weiter Richtung Magellanes. Zwei Hunde bellten, zerrten an Fleischstücken aus einem umgekippten Mülleimer. Bald würden sie einander anfallen und sich die Reste streitig machen. Solche Sachen waren es, die ihm jetzt Spaß machten. Er zog seine Waffe und erschoss einen der Hunde.
Schon besser.
Dann bog er auf die Magellanes ab. Was sonst konnte er noch tun, außer eine fette Cohiba zu rauchen und nach Hause zu fahren?
Andies Mobiltelefon vibrierte. Sie ging nicht ran. Sie wusste, was es bedeutete.
Sie drehte sich im Tabakladen zu dem kleinen Angestellten mit Schnurrbart, der kaum Englisch sprach. »Das hier sind die besten, sagen Sie? Das sind kubanische, ja?«
»Ja, Señora, die besten auf der Welt. In allen Preisklassen.«
Andie hielt nervös die beiden Zigarrenkisten vor sich. Montecristos und Cohibas. Sie wartete auf das Geräusch, auf das Klingeln der kleinen Glocke hinter ihr, wenn Cavello den Laden betrat. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Das ist nicht irgendein dummes Theaterstück, ermahnte sie sich. Du stehst hier nicht auf der Bühne. Beruhige dich und mache deine Sache richtig. Du musst perfekt sein.
Endlich hörte sie die Glocke und das Quietschen der sich öffnenden Tür. Andie spannte den Rücken an, drehte sich aber nicht um. Sie wusste, wer eingetreten war.
»Aber welche sind die besten?«, fragte sie weiter. »Es ist ein Geschenk für meinen Mann, und sie sind teuer. Ich drücke mich vielleicht nicht richtig aus, oder?«
»Señora, sie sind beide die besten«, betonte der Verkäufer. »Es ist eine Frage des Geschmacks.«
Sie blickte die beiden Kisten an. »Bitte.«
»Sie liegen bei keiner der beiden verkehrt«, meldete sich die Stimme hinter ihr zu Wort. »Aber wenn’s um mein Geld ginge, würde ich die Cohiba nehmen.«
Andie hielt die Luft an und fürchtete sich beinahe, sich umzudrehen. Aber sie tat es und stand einem Mann in schwarzem Ledermantel und Tweedmütze gegenüber. Cavello sah älter aus als in ihrer Erinnerung, sein Gesicht war hagerer. Aber er war immer noch der Mann, den sie hasste.
»Es ist wie die Wahl zwischen einem Brunello und einem Burgunder. Ich stehe auf Brunello, und in diesem Fall auf die Cohiba. Aber Frederico hat Recht, es ist eine Frage des Geschmacks.«
Der Verkäufer nickte. »Si, Señor Celletini.«
Aha, Celletini, dachte Andie. Sie reichte dem Verkäufer die Kiste Cohibas. »Ich werde diese hier nehmen.« Sie drehte sich wieder zu Cavello. »Danke für Ihre Rettung.«
»Das war keine Rettung. Selbst ein Kenner würde die Wahl schwierig finden.« Er trat näher auf sie zu. »Geschäfte oder Studienzwecke?«
»Bitte?«, fragte Andie.
»Zu dieser Jahreszeit ist es nicht üblich, hier unten einen amerikanischen Akzent zu hören. Die meisten Touristen sind schon wieder weg.«
Andie lächelte. »Geschäfte. Ich will für eine Expedition in die Antarktis anheuern, die nächsten Monat stattfindet.«
»Eine Forscherin.« Cavello spielte den Beeindruckten.
»Eher eine Köchin. Vielleicht auch eher ein Flüchtling als alles andere.«
»Das ist keine Schande.« Cavello lächelte. »Hier unten sind die meisten auf der Flucht.«
Andie schob langsam ihre Sonnenbrille nach oben, ließ ihn ihr Gesicht sehen. »Wovor sind Sie geflohen?«, fragte sie und befeuchtete ihre Lippen.
»Im Moment vor meinen Schafen. Ich habe eine Ranch zwanzig Minuten außerhalb der Stadt.«
»Schafe, hm?« Sie legte neckisch den Kopf zur Seite. »Mehr nicht?«
»Gut, Sie haben mich erwischt.« Cavello hob die Hände, als ergäbe er sich. »Eigentlich bin ich in einem Zeugenschutzprogramm. In Phoenix habe ich die falsche Abzweigung genommen und bin nach Süden gefahren. Also bin ich hier gelandet.«
»Ein Mann mit sehr schlechtem Orientierungssinn.« Andie hoffte, ihr Lachen klang echt. »Aber keine Sorge, Mr. Celletini, Ihr Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.«
»Frank«, sagte Cavello. Sein Blick wurde intensiver. Der geschickte Mörder, der Psychopath. Der Elektriker.
»Alicia.« Auch Andie konnte lügen. »Alicia Bennett.«
»Freut mich, Sie kennen zu lernen, Alicia Bennett.« Cavello streckte seine Hand aus. »Forscherin.«
Seine Hand war rau und schwielig. Andie versuchte, nicht zurückzuschrecken, und kramte rasch in ihrem Geldbeutel.
»Und was ist mit Ihnen?«, fuhr Cavello mit dem Geplänkel fort. »Wovor flüchten Sie?«
»Ich bin eine Desperate Housewife.« Andie kicherte.
»Sie müssen sehr verzweifelt sein, wenn Sie hierher kommen. Aber so sehen Sie nicht aus.«
»Ich habe diese Anzeige gesehen.« Andie zuckte mit den Schultern. »Dort stand, man käme ans Ende der Welt. Ich dachte, damit wäre Ushuaia gemeint, aber wenn ich kubanische Zigarren kaufen und mit einem Amerikaner übers Fernsehen reden kann, habe ich es vermutlich noch nicht gefunden. Also fahre ich weiter in den Süden.«
»Ihr Mann muss ein ziemlich vertrauensseliger Mensch sein, wenn er Sie alleine hierher fahren lässt, Alicia. Oder ist er es, vor dem Sie fliehen?«
Andie seufzte, als wäre ihr die Situation peinlich. »Eigentlich habe ich gelogen. Ich bin nicht verheiratet. Ich wollte dem Verkäufer gegenüber so tun, als wäre ich nicht ganz die Dumme. Die Zigarren sind fürs Schiff.«
»Die kaufen Sie schon so früh?« Cavello blickte sie an. »Das kleine Mädchen will wohl auf alles vorbereitet sein.«
Scheiße, dachte Andie, mein erster Fehler.
Der Verkäufer reichte ihr das Päckchen und das Wechselgeld.
»Mit den Cohibas haben Sie eine gute Wahl getroffen, Alicia. Und was das Ende der Welt angeht, könnte ich es Ihnen zeigen. Es ist gar nicht so weit weg, wie Sie denken.«
»Ach ja? Was meinen Sie damit?«
»Meine Ranch. Die heißt so. Das muss Schicksal sein, Alicia.«
»Ich glaube nicht ans Schicksal«, widersprach Andie mit einem Lächeln. Sie nahm ihr Päckchen unter den Arm und huschte an ihm vorbei, während er ihr die Tür aufhielt.
Andies Herz begann zu rasen. Immer mit der Ruhe, ermahnte sie sich, nur noch ein paar Sekunden. Du hast ihn an der Angel – also lass ihn nicht wieder los.
Cavello folgte ihr nach draußen. Ein Stück weiter die Straße entlang bemerkte sie zwei Leibwächter, die ziellos herumliefen, ohne besonders auf ihren Chef zu achten. Schlampig, genau wie Nick gesagt hatte.
»Samstags esse ich in der Bar Ideal immer zu Mittag«, sagte Cavello. »Sie liegt unten am Hafen. Wenn Sie Lust haben, können Sie mich begleiten.«
»Kommt darauf an«, rief Andie ihm zu, während sie rückwärts die Straße entlangging. Sie bemerkte das Funkeln in seinen Augen. Ja, sie hatte ihn an der Angel.
»Auf was?« Cavello folgte ihr ein paar Schritte.
»Darauf, womit Sie es geschafft haben, in dieses Zeugenschutzprogramm zu kommen, Mr. Celletino. Ich gehe nur mit einer bestimmten Art von Männern aus.«
»Ach so.« Cavello grinste und ging noch einen Schritt auf sie zu. »Mafiaboss. Passt das in Ihr Raster?«

Patterson James
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